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geschrieben am: 11.12.2002 um 10:04 Uhr
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[i][weiss][b]
Die Scherbe
Es war nur diese eine Scherbe, die ihre ganz Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Eine kleine Scherbe, das letzte Stück des Tellers, den sie zerbrochen hatte, der Rest war schon im Papierkorb gelandet. Doch von dieser Scherbe konnte sie sich nicht lösen, sie hockte auf dem Boden mit der Kehrschaufel in der Hand und starrte sie an. Warum hatte sie den Teller zerbrochen? Er war ihr aus den Händen gerutscht, sie hatte ihn fallen gelassen vor Schreck, als sie hörte, was geschehen war. Es hatte sehr geklirrt, und der Teller war sauber in drei unterschiedlich große Teile zerbrochen, die beiden größten hatte sie aufgehoben und weggeschmissen, für die letzte Scherbe hatte sie die Kehrschaufel geholt, sie wollte sie auffegen, um sich nicht an ihren Kanten zu verletzen, und nun hockte sie da vor der Scherbe und starrte. Er stand daneben, hatte schon lange nichts mehr gesagt, sah sie an, wie sie mit leerem Blick das letzte Stück Porzellan betrachtete. Es war weiß, ganz schlicht, ohne jedes Muster, entbehrte jeglicher Struktur, kaum zu erkennen auf dem weißen Boden, wenn man nicht wußte, wo sie war. Man hätte sich leicht verletzen können, wäre man auf sie getreten, ihre Kanten schienen ungewöhnlich scharf, viel zu scharf für billiges Porzellan aus dem Supermarkt. Man hätte meinen können, sie wäre eingeschlafen, wenn sie nicht die Augen offen gehabt hätte, sie atmete kaum noch, blinzelte wenig, hockte einfach da. Er stand hinter ihr, angelehnt an den Küchenschrank, er war bleich, er hatte Angst, das war ihm ins Gesicht geschrieben, er war einer der Menschen, dem man immer alles ansah, er konnte nicht lügen, das hätte man sofort gemerkt, deswegen hatte es er schon längst aufgegeben. Er betrachtete sie, wie sie da hockte, bemerkte die letzte Scherbe kaum, dachte, sie würde in die Gegend starren, aber er konnte nicht hören, was sie dachte, dabei war es so laut, es übertönte alles, er hätte es hören müssen, aber er hat es nicht getan. Langsam begann sie wieder, sich zu bewegen, ganz vorsichtig nahm sie die Scherbe, hob sie nun doch mit der Hand auf, ganz langsam richtete sie sich auf, immer noch die Scherbe mit dem Blick fixierend. Sie wandte sich zu ihm um, sah ihn an. "Weißt du, was das ist?" Er sah sie an, verstand nichts, hatte Angst. "Das ist es, was du mir schuldest!", sagte sie. Er blickte nur entgeistert auf die Scherbe, wollte etwas sagen, doch sie kam ihm zuvor. "Du hast mich schon zu lange davon abgehalten, das hättest du nicht tun dürfen!" Er wand seinen Blick von ihr ab, als könne er ihr nicht mehr in die Augen sehen, er entdeckte den Papierkorb mit den anderen Resten des Tellers. "Du weißt, daß du das nicht kannst.", sagte er, und blickte sie wieder an. "Und du weißt, daß das nicht wahr ist. Hast du vergessen, was du gesagt hast? Du kannst jetzt nicht mehr auf mich achtgeben, du mußt mich nun endlich lassen." Da sah er noch einmal auf die Scherbe, die sie in ihrer rechten Hand umklammerte, begann langsam zu nicken, drehte sich um, und ging aus der Küche. Sie ließ den Kopf sinken, als man die Wohnungstür zuschlagen hörte. Sie hielt die Scherbe so fest, wie sie nur konnte, und als endlich die ersten Blutstropfen herausliefen, stöhnte sie auf...
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