Auf den Beitrag: (ID: 557653) sind "0" Antworten eingegangen (Gelesen: 162 Mal).
"Autor"

- Erinnerungen im Laufe der Zeit-

Nutzer: _AleXieL_
Status: Profiuser
Post schicken
Registriert seit: 21.04.2002
Anzahl Nachrichten: 35

geschrieben am: 10.07.2002    um 18:58 Uhr   
...Gewöhnten sich unsere Mitbürger, zumindest jene, die am meisten unter diesem Getrenntsein litten, an die Situation?
Das zu behaupten wäre nicht ganz richtig.
Zutreffender wäre, dass sie moralisch wie körperlich an Auszehrung litten.
Zu Beginn der Pest erinnerten sie sich sehr genau an den Menschen, den sie verloren hatten, und sie vermissten ihn. Sie erinnerten sich zwar genau an das geliebte Gesicht, an sein Lachen, an einen bestimmten Tag, den sie nachträglich als einen glücklichen erkannten, aber sie konnten sich nur schwer vorstellen, was der andere wohl im gleichen Augenblick, in dem sie an ihn dachten, und an einem nunmehr so fernen Ort machte. Kurz, zu jenem Zeitpunkt hatten sie eine Erinnerung, aber eine unzureichende Vorstellungsgabe.
Im zweiten Stadium der Pest verloren sie auch die Erinnerung. Nicht, dass sie jenes Gesicht vergessen hätten, aber, was auf das selbe hinausläuft, sie hatten seine Körperlichkeit vergessen, sie erblickten es nicht mehr in ihrem Inneren. Und während sie in den ersten Wochen dazu neigten, sich zu beklagen, dass sie es bei ihrer Liebe nur noch mit Schatten zu tun hatten, merkten sie in der Folge, dass diese Schatten noch körperloser werden konnten und das letzte bisschen Farbe einbüßten, das die Erinnerung von ihnen bewahrte. Ganz am Ende dieser langen Trennungszeit konnten sie sich weder jene innige Vertrautheit, die sie gehabt hatten, vorstellen noch wie neben ihnen ein Mensch hatte leben können, den sie jederzeit in greifbarer Nähe hatten....

Aus Albert Camus „Die Pest“

  Top