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geschrieben am: 21.11.2002 um 13:57 Uhr
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[i] [schwarz]
1 Sekunde die mein Leben verändert ( Teil 1 )
[weiss]
Mist, es ist schon wieder sieben Uhr. Jetzt bloß nicht auch noch den Bus verpassen. Jule rauft ihre Sachen zusammen. Michael wartet schon vor der Tür. Seit sie denken kann gehen sie schon zusammen zur Schule. Michael, ihr Bruder Alex und sie. Die Beiden sind zwar 2 Jahre älter, aber das stört weder Jule noch die Jungen. Endlich kommt Alex die Treppe runter. „Na endlich, noch eine Minute später und du kannst mir ne Endschuldigung schreiben“, fährt Jule ihn an. Schnell noch den Schlüssel gesucht und ab zur Bushaltestelle.
Hilfe! Der Bus steht schon an der Haltestelle. Sie rennen noch schneller. „O Mann!“ keucht Alex hinter Jule. „Wenn man bedenkt, wie wahnsinnig gern man in die Schule geht, und dann rennt man auch noch, um hinzukommen!“
„ Den Bus kriegen wir noch!“ ruft Jule im selben Moment über die Schulter, als sie auf die Hauptstraße hinausstürzen. „Aber nur, wenn er uns sieht!“ ruft Michael zurück. Jule pest über die Straße. Ein paar Schritte auf der anderen Seite, dann kracht es hinter ihr – dieses Geräusch soll beschreiben, wer kann und will! -, Reifen kreischen auf dem Asphalt, und irgend etwas flattert wie ein aufgescheuchter Vogelschwarm. Jule dreht sich um, dreht sich sofort um, dreht sich im selben Augenblick um, als sie das Krachen hört, den Schrei, das Flattern, aber um Gottes willen, wie ist es möglich, dass Alex plötzlich so weit weg liegt? Dort kann er doch nicht liegen! Wo sind seine Beine? Wieso schneit es plötzlich? Nein, das sind ja lauter Papiere, die herabschweben, Alex Hausarbeit, die er übers Wochenende fertiggeschrieben hat, fällt unbegreiflicherweise vom klarblauen Himmel, und hier stinkt es noch verbranntem Gummi, Alex, Menschenskind, bist du in der Mitte auseinandergebrochen!, und drüben im Auto sitzt Herr Baumann, ein Nachbar von ihnen, und starrt und starrt, die schwarzen Spuren auf dem Asphalt enden bei ihm, enden vor den Reifen seines Autos, seines eigenen Autos.
„ Mach das Radio aus!“ schreit ihm jemand vom Bus aus zu, aber er reagiert nicht, starrt und starrt, sinnlose Musik plätschert über die Szene.
Plötzlich hält ein anders Auto, jemand stürzt heraus und packt Jule: „ Wie heißt du? Wo wohnst du? Wer ist er?
Erhält er eine Antwort? Er hat ein Autotelefon, telefoniert und schlägt Alarm, doch das hat der Busfahrer bereits erledigt. Der Autofahrer schiebt Jule auf den Rücksitz seines Autos. Später kommt auch Michael hinzu. Er ist ganz weiß im Gesicht. Ein ältere Mann legt den Arm um Jule: „So, ist schon gut, wir fahren euch nach Hause. Ist das hier der richtige Weg?“
„Er ist nur angefahren, nicht überfahren. Es ist nicht schlimm, oder? Bestimmt nicht, oder?“
Als das Auto von der Hauptstraße abbiegt, sieht sie, dass irgendwelche Leute Alex beatmen. „Es ist nicht schlimm, oder? Er ist nur angefahren“, wiederholt Jule und schaut unverwandt hinüber, sie wartet darauf, dass Alex aufsteht und ihr zuwinkt, dass er zurückkommt und in den Bus einsteigt… wir müssen doch in die Schule fahren.
„ Sind wir hier richtig?“, fragt der Mann, der Jule im Arm hält, als sie auf die Einfahrt einbiegen. „Ja, hier hinauf!“ Jule braucht nur einmal den Weg zu zeigen, als wüsste der Fahrer wo er hinmuss.
Wenig später sitzt auch Mutter mit im Auto. Zusammen fahren sie zurück zur Hauptstraße. Jule will nicht das sie mitkommen. Doch Mutter füllt das Auto schon mit ihrer Unruhe, ihren Fragen, Alex ist nur angefahren, erklärt Jule, nur angefahren, nicht überfahren, es ist gar nicht schlimm, oder? Wir sind doch Geschwister, sind doch zwei, hier bin ich, ich lebe und bin stark. Während der Fahrt stimmt Jule ein Lied an, das erste, das ihr durch den Kopf geht: I believe the children are our future...
Es ist hundert Jahre her, seit Jule es hinter sich krachen hörte, aber merkwürdigerweise ist die Szene auf der Straße unverändert, als sie dort ankommen. Immer noch versucht jemand, Alex Leben einzuhauchen, immer noch liegt er da und spielt seine schreckliche leblose Rolle. Und Mutter stürzt hin, schreit, schreit, genau so, wie Jule es wußte, dass sie schreien würde, ja, wie Jule es wusste, obwohl sie noch nie den letzten Schrei eines ertrinkenden Menschen gehört hat, wie sie es trotzdem wußte, und jetzt hört sie diesen Schrei, jetzt schreit Mutter so, jetzt ertrinkt sie, jetzt schreit sie Jule aus jedem Glauben, der Hoffnung heraus, dass Alex wieder zu sich gekommen ist oder es bald tun wird, schreit um Rettung für ihre ertrinkende Seele, während Jule gelähmt, schweigend, betend dasitzt: Lieber Gott.. nein, kein Gebet an den fernen, fernen Gott, sie bittet ihren Bruder, bittet ohne Glauben, ohne Hoffnung: Steh wieder auf, Alex! Steh auf und hör auf, uns zum Narren zu halten!
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