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geschrieben am: 12.11.2002 um 13:03 Uhr
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[i][blau]Zuerst sang sie von dem Werden der Liebe in dem Herzen eines Knaben und eines Mädchens. Und an der Spitze
des Rosenstrauchs
erblühte eine herrliche Rose, Blatt reihte sich an Blatt, wie Lied auf Lied. Erst war sie bleich wie der Nebel, der
über dem Fluß hängt,
bleich wie die Füße des Morgens und silbern wie die Flügel des Dämmers. Wie das Schattenbild einer Rose in
einem Silberspiegel, wie
das Schattenbild einer Rose im Teich, so war die Rose, die aufblühte an der Spitze des Rosenstocks.
Der aber rief der Nachtigall zu, daß sie sich fester noch gegen den Dorn presse. "Drück fester, kleine Nachtigall",
rief er, "sonst bricht
der Tag an, bevor die Rose vollendet ist." Und so drückte die Nachtigall sich fester gegen den Dorn, und lauter
und lauter wurde ihr
Lied, denn sie sang nun von dem Erwachen der Leidenschaft in der Seele von Mann und Weib. Und ein zartes
Rot kam auf die Blätter
der Rose, wie das Erröten auf das Antlitz des Bräutigams, wenn er die Lippen seiner Braut küßt.
Aber der Dorn hatte ihr Herz noch nicht getroffen, und so blieb das Herz der Rose weiß, denn bloß einer
Nachtigall Herzblut kann das
Herz einer Rose färben. Und der Baum rief der Nachtigall zu, daß sie sich fester noch gegen den Dorn drücke.
"Drück fester, kleine
Nachtigall", rief er, "sonst ist es Tag, bevor die Rose vollendet ist." Und so drückte die Nachtigall sich fester gegen
den Dorn, und der
Dorn berührte ihr Herz, und ein heftiger Schmerz durchzuckte sie. Bitter, bitter war der Schmerz, und wilder,
wilder wurde das Lied,
denn sie sang nun von der Liebe, die der Tod verklärt, von der Liebe, die auch im Grab nicht stirbt. Und die
wundervolle Rose färbte sich
rot wie die Rose des östlichen Himmels. Rot war der Gürtel ihrere Blätter, und rot wie ein Rubin war ihr Herz.
Aber die Stimme der
Nachtigall wurde schwächer, und ihre kleinen Flügel begannen zu flattern, und ein leichter Schleier kam über ihre
Augen. Schwächer und
schwächer wurde ihr Lied, und sie fühlte etwas in der Kehle.
Dann schluchzte sie noch einmal auf in letzten Tönen. Der weiße Mond hörte es, und er vergaß unterzugehen und
verweilte am Himmel.
Die rote Rose hörte es und zitterte ganz vor Wonne und öffnete ihre Blätter dem kühlen Morgenwind. Das Echo
trug es in seine Purpur-
höhle in den Bergen und weckte Schläfer aus ihren Träumen. Es schwebte über das Schilf am Fluß, und der trug
die Botschaft dem Meere
zu. "Sieh, sieh!" rief der Rosenstrauch, "nun ist die Rose fertig". Aber die Nachtigall gab keine Antwort, denn sie
lag tot im hohen Gras,
mit dem Dorn im Herzen.
Um Mittag öffnete der Student sein Fenster und blickte hinaus. "Was für ein Wunder und Glück!" rief er, "da ist
eine rote Rose! Nie in
meinem Leben habe ich eine solche Rose gesehen. Sie ist so schön, ich bin sicher, sie hat einen langen lateinischen
Namen". Und er
lehnte sich hinaus und pflückte sie. Dann setzte er seinen Hut auf und lief ins Haus seines Professors, mit der Rose
in der Hand.
Die Tochter des Professors saß in der Einfahrt und wand blaue Seide auf eine Spule, und ihr Hündchen lag ihr zu
Füßen. "Ihr sagtet, Ihr
würdet mit mir tanzen, wenn ich Euch eine rote Rose brächte", sagte der Student. "Hier ist die röteste Rose der
Welt. Tragt sie heut
abend an Eurem Herzen, und wenn wir zusammen tanzen, wird sie Euch erzählen, wie ich Euch liebe."
Aber das Mädchen verzog den Mund. "Ich fürchte, sie paßt nicht zu meinem Kleid", sprach sie, "und dann hat mir
auch der Neffe des
Kammerherrn echte Juwelen geschickt, und das weiß doch jeder, daß Juwelen mehr wert sind als Blumen."
"Wahrhaftig, Ihr seid sehr undankbar", rief der Student gereizt. Und er warf die Rose auf die Straße, wo sie in die
Gosse fiel, und ein
Wagenrad fuhr darüber. "Undankbar?" sagte das Mädchen, "ich will Euch was sagen: Ihr seid sehr ungezogen -
und dann: wer seid Ihr
eigentlich? Ein Student, nichts weiter. Ich glaube, Ihr habt nicht einmal Silberschnallen an den Schuhen, wie des
Kammerherrn Neffe."
Und sie stand auf und ging ins Haus.
"Wie dumm ist doch die Liebe", sagte sich der Student, als er fortging, "sie ist nicht halb so nützlich wie die Logik,
denn sie beweist gar
nichts und spricht einem immer von Dingen, die nicht geschehen werden, und läßt einen Dinge glauben, die nicht
wahr sind. Sie ist
wirklich etwas ganz Unpraktisches, und da in unserer Zeit das Praktische alles ist, so gehe ich wieder zur
Philosophie und studiere
Metaphysik." So ging er wieder auf sein Zimmer und holte ein großes, staubiges Buch hervor und begann zu lesen.
Oscar Wilde |
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