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geschrieben am: 17.11.2002 um 17:36 Uhr
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[i] [weiss] Teil 2
Seine Blicke blieben an einer jungen Frau haften, die es eilig hatte, nach Hause zu kommen. Ohne sie aus den Augen zu lassen, umkreiste er sie wie ein Adler. Die Frau schien etwas zu bemerken, denn sie blieb einen Augenblick stehen, lauschte angestrengt und beschleunigte dann ihre Schritte.
Er liebte es, mit seiner Beute zu spielen, denn er liebte den Geruch von Todesangst. Aber noch war sie nicht soweit.
Er schlug einen Bogen und flog auf einen große Baum zu, der auf ihrem Weg lag. Er stellte sich davor und schlug seine Flügel um seinen Körper. Sie sollte ihn nicht gleich bemerken.
Er konnte sie bereits riechen. Schnell ging sie die dunkle und verlassene Straße entlang. Als Sie an dem Baum vorbeikam, trat er hervor. Sie blieb stehen und blickte ihn an.
‚Wieso fürchtet sie sich nicht’, dachte er verunsichert. Langsam ging er auf sie zu. Sie wich einen Schritt zurück und blieb dann stehen.
„Wer bist du?“, fragte sie.
Das hatte ihn noch niemand gefragt. Erstaunt blieb er stehen und sah sie sich genauer an. Sie war dunkel gekleidet, hatte langes, schwarzes Haar und große, blaue Augen. Aber wieso konnte er ihre Angst nicht riechen?
„Sag mir, was du in mir siehst.“, forderte er sie heraus.
Sie sah sich ihn genauer an. Eine kurze Pause entstand.
„Ich sehe ein einsames Geschöpf, dass nicht weiß, wohin es gehört.“
Er fühlte sich ertappt. Wütend breitete er seine großen Schwingen aus und stand stolz vor ihr. Sie wich einige Schritte zurück.
Ja, jetzt konnte er Angst riechen.
„Was siehst du jetzt?“, fragte er sie wieder.
Er hörte ihr Herz schlagen, doch der Geruch von Angst war verflogen. Eine längere Pause entstand, doch er hatte es nicht eilig. Sie fing an, ihn zu interessieren. Zum ersten Mal seit langer Zeit dachte er über die Erschaffung eines Gefährten nach.
Wieder sah sie ihn durchdringend an.
„Ich sehe ein einsames Geschöpf, dass nicht weiß, wohin es gehört.“, wiederholte sie.
Er sah sie erstaunt an und begann, herzhaft zu lachen.
„Du gefällst mir!“, sagte er. „Komm mit mir! Was hast du hier zu verlieren? Was kann dir diese Welt schon bieten? Wenn ich dich ansehe, dann weiß ich, dass auch du auf der Suche bist! Du gehörst nicht hierher! Werde eine von uns – von mir!“
„Woher willst du wissen, dass ich auf der Suche bin?“, fragte sie und musterte ihn.
„Weil du die gleiche Leere in den Augen hast, wie ich.“, antwortete er und ging auf sie zu. „Ich zeige dir, was ich dir bieten kann!“
Mit diesen Worten umfasste er sie und stieß sich in die Luft. Sie flogen weit über die Stadt.
„Sieh nur, wie wunderbar es aussieht.“, flüsterte er in ihr Ohr und flog mit ihr über den Wald. ‚Wunderschön’, dachte sie.
„Wir könnten das jede Nacht sehen. Wir könnten an Orte fliegen, die du noch nie gesehen hast. An noch viel schönere Orte als diesen.“
Er setzte sie auf einen hohen Berg ab und sah sie an. Er spürte ihre Begeisterung.
„Wir schlafen am Tage und jagen in der Nacht.“, erklärte er.
Sie sah ihn an.
„Wie viele gibt es denn von euch?“, fragte sie.
„Ich bin der Letzte meiner Art.“, antwortete er. „Die Anderen verschwanden schon vor langer Zeit.“
„Und was jagst du?“
„Ich lebe vom Herzblut anderer Lebewesen.“
„Vom Herzblut der Menschen?“, fragte sie leise.
„Ja.“, antwortete er. „Aber wenn du erst einer von mir bist, dann empfindest du für die Menschen kein Mitleid mehr. Sie werden dir egal sein.“
‚Das sind sie mir schon jetzt’, dachte sie.
„Lass mich bitte kurz allein. Ich muss nachdenken.“
Er wandte sich ab, blieb aber kurz stehen.
„Überlege es dir gut! Die Entscheidung, die du jetzt triffst, kannst du nicht wieder rückgängig machen.“ Mit diesen Worten stieg er wieder in die Lüfte und ließ sie mit ihren Gedanken allein.
Sie legte sich auf einen breiten Felsen und blickte zu den Sternen. Wie oft hatte sie sich gewünscht, fliegen zu können. Außerdem fühlte sie sich in der Nacht sehr wohl, und sie hatte niemanden, der ihr fehlen würde. Ohne zu wissen, was sie so vermisste, hat er sie mit seinen Worten gefangen genommen. Doch konnte sie den Menschen wirklich so etwas antun? Konnte sie über ihr Leben entscheiden? Aber er hatte gesagt, dass es ihr egal sein würde, wenn sie erst zu ihm gehört.
Sie lag auf dem Felsen und starrte die Sterne an. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen.
Als er sich neben ihr niederließ, erhob sie sich.
„Hast du dich entschieden?“, fragte er sie.
„Ja.“, antwortete sie. „Wie werde ich wie du?“
Er lächelte und ging auf sie zu.
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