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geschrieben am: 22.05.2004 um 19:15 Uhr
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Es bricht Luise das Herz, wenn sie daran denkt. Wie eine Krankheit hat sich ihr seelischer Schmerz in ihrem Körper eingenistet. Sie ist verzweifelt, hat Schuldgefühle. Luise weiß nicht, wann sie wieder lachen wird, sich über Dinge freuen kann. Noch ist ihre Trauer zu groß. Sie hat ihren besten Freund verloren. Felix ist tot. Er hat sich umgebracht. Mit fünfzehn wollte er nicht mehr leben. „Warum nur?“ Diese Frage quält sie.
„Es ist wie ein Albtraum, der einfach nicht aufhört“, sagt sie. Die Vierzehnjährige aus Leipzig versteht nicht, wie Felix das tun konnte – ihr das antun konnte. „Ich war doch immer für ihn da. Er hat mir hundertprozentig vertraut, das weiß ich. Und trotzdem hat er mir nie gesagt, wie es wirklich in ihm aussieht.“ Vielleicht fehlte ihm der Mut. Vielleicht hatte er mit seinem Leben schon abgeschlossen, als sie sich das letzte Mal sahen. Vielleicht. Luise weiß es nicht.
Luise und Felix kannten sich seit der dritten Klasse. Der Junge hatte nach der Wende einige Jahre mit seinen Eltern und Geschwistern im Westen, in der Nähe von Hamburg, gelebt. „Als Felix mit seiner Familie wieder nach Leipzig zog, kam er in meine Klasse“, erinnert sich Luise. „Er galt sofort als Außenseiter, weil er nicht so sprach wie wir. Er hatte ja Hochdeutsch gelernt.“
Luise störte das nicht. Sie schloss schnell Freundschaft mit ihm. Auch, weil er nur eine Straßenecke entfernt wohnte und wie sie einen kleinen Mischlingshund besaß. Eine Zeitlang trafen sich die beiden fast täglich, um seinen Hund „Mini“ und ihren Rüden „Dusty“ gemeinsam Gassi zu führen. „Felix war wie eine beste Freundin für mich. Ich habe ihm absolut vertraut und wir konnten über alles reden.“ Sie verrieten sich gegenseitig ihre Geheimnisse, lästerten über die Eltern, wenn sie gerade wieder Stress hatten, und offenbarten dem anderen, in wen man gerade verknallt war. Manchmal durfte Felix sogar bei Luise übernachten. Aber zwischen ihnen ging es nicht um Liebe und Sex, sondern um ehrliche, tiefe Freundschaft.
Viele Freunde hatte Felix nie. Auch als er später die Schule wechselte, um aufs Gymnasium zu gehen, änderte sich das nicht. Bei seinen neuen Mitschülern hatte er immer einen schweren Stand. Besonders die Jungs mochten ihn nicht. Für sie war Felix zu groß, zu dick, zu weich. Deshalb grenzten sie ihn von Anfang an aus und hänselten ihn, weil er nicht die gleiche Kleidung trug wie sie. Seine Hosen waren enger, seine Shirts hatten keine Markennamen.
Felix und Luise sahen sich nach dem Schulwechsel nicht mehr so häufig. Trotzdem blieb ihre Freundschaft bestehen. „Wenn wir zusammen waren, bekam ich manchmal mit, wie die anderen ihn schikanierten“, erzählt Luise. „Einmal sind wir durch einen Park gelaufen, da beschimpften sie ihn von weitem als „fette Schwuchtel“ und „schwulen Bock“. Später habe er ihr erzählt, dass sie ihn für schwul halten und ihn deswegen in der Schule ausgrenzen. Wie sehr Felix darunter litt, vertraute er seinem Tagebuch an: „Ich bin nicht schwul!“, schrieb er verzweifelt, „Ich stehe auf Mädchen!“
An anderer Stelle notierte er in seinem Tagebuch, wie wichtig Luise für ihn war: „Ich erkenne nur sie als Freundin. Sie ist die Einzige, die mich versteht und aufbaut.“ Sogar ein Gedicht schrieb er für sie:
„Eine Nacht, in der viele Sternschnuppen fielen,
ein kleines Licht am Ende des Tunnels,
sie ist so schön wie eine rot blühende Rose.“
Die Verse,die er mit der Widmung „Für Luise“ überschrieb, bekam sie erst nach seinem Tod zu lesen.
Geändert am 22.05.2004 um 19:16 Uhr von inasc Geändert am 22.05.2004 um 19:19 Uhr von inasc |
Wer glaubt, ein Christ zu sein, weil er die Kirche besucht, irrt sich. Man wird ja auch kein Auto, wenn man in eine Garage geht. |
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